Bettina Scheiflinger
Gerade in Zeiten wie diesen ist ein reales Treffen eine Wohltat: Augenkontakt beim Sprechen, die Möglichkeit, einander anzulächeln oder fragend eine Augenbraue zu heben, ein Buon Giorno am gemeinsamen Frühstückstisch, der Geruch meines Gegenübers, das Rascheln von Jacken und das Kratzen von Stiften auf Papier beim Notizen machen. Teilweise bedienen wir uns vier verschiedenen Sprachen und der non-verbalen Kommunikation beim Diskutieren. Wichtige Mittel, um sich zu verständigen, Banden zu knüpfen, Voraussetzungen des Lebens als Autor:innen zu vergleichen, uns gegenseitig unsere Realitäten verständlich zu machen.
Vier Tage verbringen wir in Monte Verità, mitten drin in einem Literaturfestival, an dessen Veranstaltungen wir teilnehmen und das wir für uns und mit unseren Fragen und Erfahrungen dadurch mitgestalten.
„Wer von euch möchte vom Schreiben leben, Autor:in sein, voll und ganz?“ Die Eröffnungsfrage von Fabio Pusterla beim ersten Treffen des Cenacolos ist ein steiler Einstieg in die Welt der Literatur. Die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten eines solchen Lebens wird uns bis Sonntag nicht loslassen. Mich auch nicht darüber hinaus.
Dazwischen sind Begegnungen mit Menschen und ihren Texten. Als erstes am Liceo in Locarno, wo uns zwei Klassen sehr aufmerksam zuhören beim Lesen unserer eingereichten Texte. Sie haben einige der Geschichten übersetzt und stellen Fragen zur verwendeten Sprache, zum Inhalt der Geschichten und ja, auch zum Leben als Autor:in. Ein Teilnehmer antwortet, dass es ein Abenteuer ist, zu schreiben und auch davon leben zu wollen. Etwas, das man wagen muss.
Bis Sonntag besuchen wir einige Lesungen in Monte Verità und ich finde in den Gesprächen der anwesenden Autor:innen und in deren Texten gleich viele Antworten wie auch neue Fragen an mich selbst.
Beim abschliessenden Treffen in der Gruppe am Sonntag erzählt Fabio Pusterla aus einer Geschichte von Andrej Makine mit der Konklusion: „La fin disait : voilà le sens de la littérature, émouvoir jusqu’aux larmes un analphabète. Si elle n’arrive pas à le faire, elle ne m’intéresse pas. Si elle le fait, c’est le style à le faire.»
Und wir steigen mit dieser Anekdote nochmal ein, bevor wir uns ganz verabschieden. Wir fragen uns auch: Wozu überhaupt das ganze Schreiben, all die Geschichten, die Sprache, die Gedichte? Die Mühen des prekären Lebens, der Verzicht? Wozu dient das alles?
Vielleicht, denke ich mir auf der Heimfahrt, vielleicht können wir Autor:innen nicht anders, als Figuren auf dem Papier zu entwerfen, sie in die Welt schicken, leben und erleben lassen, um mit ihnen ein neues, ein anderes, ein nie erahntes Leben zu erschaffen? Un altra vita - ein anderes Leben, zwischen zwei Buchdeckeln und ebenso aus Fleisch und Blut.
Biografia
Bettina Scheiflinger, nata a Wil (SG) nel 1984, studia arte letteraria a Vienna. Ha scritto radiodrammi, una pièce teatrale andata in scena nel 2018 e vari testi pubblicati in riviste letterarie. Il suo romanzo Erbgut uscirà nell'autunno del 2022.