Pino Dietiker
Wir trafen uns auf dem Wahrheitsberg, zwei italienisch-, zwei französisch-, vier deutschsprachige Schreibende, und sahen uns vor die Herausforderung gestellt, dass in einem viersprachigen Land nicht alle Menschen viersprachig sind. Ich war erfreut, dass wir uns auf das Französische und nicht auf das Englische als lingua franca für unseren viertägigen Austausch einigten; ich war beeindruckt, als Mentor Fabio Pusterla einen Essay, den er auf Italienisch verfasst hatte, stante pede ins Französische übersetzte; und ich war enttäuscht, wie unpräzis ich mich trotz acht Jahren Schulfranzösisch und Studium in Biel und Lausanne ausdrückte. Vor diesem Hintergrund erfrechte ich mich am dritten Tag, die hehre Vorstellung einer viersprachigen Schweizerliteratur zu untergraben: »On n’écrit pas dans un pays, on écrit dans une langue«, so sagte ich und fragte in die Runde, ob sich der Kraftakt einer innerhelvetischen Verständigung über die Sprachgrenzen hinweg lohne, wo doch die Französischschreibenden unter uns in Paris, die Italienischschreibenden in Mailand, Rom und Turin, die Deutschschreibenden in Berlin und Hamburg, Frankfurt und Leipzig arrivieren wollen. Ich erntete Widerspruch für meinen unschweizerischen Standpunkt und ließ mich überzeugen: von den Teilnehmenden des Cenacolo, vor allem aber von den Schülerinnen und Schülern des Liceo di Locarno. Sie beglückten mich damit, dass sie meinen Text Großvaters Erwartungen ins Italienische übersetzten und mir am zweiten Tag – teils auf Deutsch, teils auf Italienisch – Fragen stellten, die sich ihnen beim Übersetzen ergeben hatten; sofern sie meinem Text damit nicht gleich ein anderes Leben einhauchten, so bereicherten sie ihn auf jeden Fall um einen neuen Blick. Handelt es sich bei der Ich-Figur um eine Frau oder einen Mann? (Die Schülerinnen und Schüler tendierten entgegen meiner Erwartung zu Ersterem.) Wenn auf Deutsch »Studentenblumen« das Grab der Großmutter zieren: Was pflanzen wir auf Italienisch, um auch die Altersopposition in die andere Sprache umzutopfen? (Wir fanden keine abschließende Antwort.) Warum setzen Sie Kommas an Stellen, an denen Punkte zu erwarten wären? (Ich improvisierte im Schulzimmer eine Begründung, an die ich mich nur noch halbwegs erinnere; von Rhythmus sprach ich und davon, dass jeder Punkt ein Tod für mich sei – obwohl meine Primarlehrerin immer sagte, ich dürfe beim Vorlesen »nicht absterben« zum Satzende hin.) Wochen später begegnete mir das wundersame Wort ›Fließkommazahl‹ – auf Italienisch: numero in virgola mobile –, und nun schicke ich meinen Übersetzerinnen und Übersetzern den Nachtrag an den Langensee: Ich bin an einem Flussufer aufgewachsen und meine Kommas sind Fließkommas, die meine Sprache im Fluss halten. Ich danke den Eventi letterari Monte Verità für eine nachhaltige Erfahrung der Mehrsprachigkeit.
Biografia
Pino Dietiker, nato ad Aarau nel 1991, dal 2019 lavora come dottorando in germanistica a Losanna. Ha pubblicato numerosi testi in prosa su riviste, quali Narr e Literarischer Monat, e ha curato opere di Paul Nizon e di Robert Walser.