© Eventi letterari Monte Verità

Alexander Estis

Alexander Estis

 

Es ist bemerkenswert, wie scheinbar marginale Episoden eine nicht geringere, wenn nicht sogar eine grössere Spur in unserer Erinnerung hinterlassen und zu stärkerer Reflexion anregen können als zentrale Ereignisse.
Abseits aller Grossveranstaltungen, offizieller Gesprächsrunden und Vorträge ist mir von den Eventi letterari Monte Verità eine kurze anekdotische Ausführung von Fabio Pusterla besonders in Erinnerung geblieben. Nach unserer gemeinsamen Lesung an einer Schule diskutierten wir über Fragen der Literaturvermittlung. Dabei kam Fabio auf eine typische Schülerfrage zu sprechen: Ob nämlich diese oder jene poetische Sprachfigur, beispielshalber eine hölderlinsche Alliteration, «bewusst eingebaut» sei, also mit einer entsprechenden vorausgehenden Reflexion, einer minutiösen Planung einhergehe. (In der Tat ist diese Frage nicht so naiv, wie sie aus der Höhe literaturwissenschaftlicher produktionsästhetischer Debatten prima vista erscheinen mag, und eine gute Antwort darauf ist alles andere als einfach, wenn man sich ihr nicht gänzlich verweigern, sich andererseits aber auch nicht mit vagen Verweisen auf solche stereotypen Kategorien wie den glücklichen Zufall, die Kraft des Unbewussten oder gar das ominöse Genie begnügen will.)
Fabio hatte dafür eine, wie mir scheint, zugleich einprägsame wie präzise Analogie parat, die ich leider nur ungenau aus dem Gedächtnis wiedergeben kann: Würde man wohl Roger Federer nach einer Partie fragen, ob er eine konkrete Armbewegung in einem bestimmten Moment «bewusst» vollführt habe? Diese Frage klingt insofern absurd, als dem Tennisspieler ja offensichtlich gar nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um eine Bewegungsabfolge bewusst zu planen. Und doch kann man auch nicht guten Gewissens behaupten, es handle sich um eine unwillkürliche Handlung, zumal erst die Gesamtheit solcher Bewegungsabläufe Roger Federer zu Roger Federer macht. Hinter dieser in einem einzelnen Augenblick unwillkürlich erscheinenden und nicht im Sinne einer unmittelbar vorausgehenden Planung bewussten Bewegung stecken aber sowohl die jahrzehntelangen Trainingbemühungen als auch die individuelle Veranlagung des Sportlers. Ebenso verhalte es sich mit der dichterischen Arbeit.
Dieses Bild traf bei mir auf verwandte Vorstellungen; es kommt mir überaus treffend vor und hat mich zu weiteren Überlegungen auf diesem Themengebiet geführt. Vielleicht bietet diese Anekdote eine kleine Illustration für die Gespräche des Cenacolo – und die beeindruckende Kraft, die scheinbar beiläufige Bemerkungen und kleine Analogien manchmal entfalten können.

Biographie

 

Adrien Gygax, geboren 1989 in Lausanne, lebt in Glion (VD). Er hat bisher zwei Romane veröffentlicht: Aux noces de nos petites vertus (Cherche midi, 2017) und Se réjouir de la fin (Grasset, 2020). Sein dritter Roman wird im Januar 2022 erscheinen.