Orte der Utopie
Vollständinges Programm
«Von den vielen Utopien gibt es heute nur noch zwei: Die Liebesinsel und die Schatzinsel», meinte provozierend der deutsche Philosoph Peter Sloterdjik vor fünf Jahren auf dem Monte Verità. Woran mag er gedacht haben? Sicherlich nicht an entlegene Pazifik-Inseln, auf denen sich schon Paul Gauguin vergnügte, eher an moderne Escort Services und vielleicht auch an virtuelle, mehr oder weniger harte Porno-Treffen; mit dem zweiten Begriff bezog er sich wahrscheinlich, in Anlehnung an den Titel eines Romans von Robert Luis Stevenson, auf die schillernde Welt von Wall Street, an deren Stelle heute der Trump Tower stehen könnte.
Was ist also geblieben von der ursprünglichen Idee einer Utopie als Nicht-Ort, als idealistische Gesellschaft, die gerecht, frei und glücklich ist, wie der menschliche Geist sie sich in verschiedensten Städten, Inseln und Ländern ausgemalt hat? Nach dem Fiasko der Ideologien des letzten Jahrhunderts scheint Utopie sich nur noch als eine Reihe von kleinen, persönlichen Sehnsüchten zu verstehen. An vier Festivaltagen wollen wir uns einigen Orten nähern, an denen sich diese Sehnsüchte festmachen, wobei wir die grundlegende Frage nicht aus den Augen lassen, die auch den Beitrag von Luciano Canfora inspiriert: «Wird die Utopie von ihrem Scheitern zerstört, oder lebt die Utopie als moralisches Verlangen trotz aller Schiffbrüche weiter?». Über den «Schiffbruch», den die osteuropäischen Völker am Ende des 20. Jahrhunderts durchlebt haben, spricht die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die diesen in «Romanen in Stimmen» auf erschütternde Weise erzählt hat. Oft sind es Bewegungen ins Offene, von Hoffnung getragene Intentionen, die dazu verurteilt sind, in Schrecken oder Leere zu enden, wie es der Hauptfigur des jüngsten Romans von Peter Stamm, Weit über das Land, widerfährt. Der Schweizer Nicolas Bouvier und Bruce Chatwin, zwei der grossen Reiseschriftsteller unserer Zeit, berichten von halb imaginären, halb realen Reisen, die sie veränderten. Sonia Bergamasco leiht ihnen ihre Stimme. Der argentinische Schriftsteller und Essayist Alberto Manguel listet einen wunderbaren Katalog erfundener Orte auf und Christoph Ransmayr, Autor des Romans Die letzte Welt, der Mythos und Wirklichkeit miteinander verschmelzen lässt, erzählt vom Wahn, die Ewigkeit durch Reisen in der Zeit messen zu wollen. Frank A. Meyer umkreist die Sehnsucht nach der Sehnsucht. Der Astronaut Umberto Guidoni erzählt seine vielseitige und reiche Erfahrung an «Reisen durch den Himmel» und erklärt dabei, welche Errungenschaften unsere Bindung zum All gebracht hat und welche Thesen aus ihr noch erwachsen.
Ganz anders und bedrückend, die grossen Migrationen unserer Zeit, die von Verzweiflung und falschen Utopien getrieben werden: Für die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer zu uns kommen, ist Europa ein Sehnsuchtsort. Drei junge europäische Schriftsteller – Olga Grjasnowa, Aleš Šteger und Alessandro Leogrande – versuchen, aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen heraus Logbücher dieser Fluchtbewegungen zu entwerfen. Ursprünglich bezeichnete «Utopia», im Griechischen, einen «Nicht-Ort». Heute hat diese Ortlosigkeit viele Namen: von Atlantis über Patagonien bis Lampedusa.
Joachim Sartorius, Paolo Di Stefano