Utopie und Liebe
Vollständiges Programm
«Ist Liebe ein zartes Ding? Sie ist zu rau, zu wild, zu tobend und sie sticht wie Dorn»: Diese Worte von Romeo an Julia beinhalten im Grunde schon alles. Nichts spendet im selben Masse Glück und Leid, wie es die Liebe zu tun weiss. Die vielen Seiten der Liebe bringen leidenschaftliche, frohmutige und schmerzhafte Wörter zum Glühen. Tragische, gefühlvolle und komische Geschichten, endlose Dichtungen und vernichtende Verse: Die Literatur keimt in der Liebe. Sie entsteht, um die unzähligen Facetten der Liebe zu erzählen – ihre gefällige, wahnsinnige, treue, untreue, trügerische und verzweifelte Natur. Wir alle sind mit grossen Liebespaaren aufgewachsen wie Tristan und Isolde, Abaelard und Heloise, Dante und Beatrice, Laura und Petrarca, Romeo und Julia, ungerechnet der vielen Prinzen und Prinzessinnen, die unsere Kinderfantasie genährt haben.
Die vierte Ausgabe der Eventi letterari Monte Verità will sich der Liebe in ihren vielen Erscheinungen widmen, als metaphysisches Ereignis, als Wahnsinn, als Arena für Treue und Verrat. Der Bogen spannt sich vom vor Eifersucht rasenden Ehemann zur klugen, grossherzigen Frau, von der Utopie der bedingungslosen Liebe zur Utopie des Liebes-als Lebenspaares bis in den Tod: Philemon und Baucis. Schliesslich ist der Gegensatz von Eigenliebe und Nächstenliebe in unserer Zeit von besonderer Dringlichkeit, denn oft fehlt es an Empathie und Mitleid. Ian McEwan führt uns zu den Schiffbrüchen der Liebe, Marco Santagata meditiert über Dante und Beatrice, Lukas Bärfuss eilt von den Tiefen zu den Untiefen der Liebe. Die beiden Avantgarde-Tänzer aus Berlin, Angela Schubot und Jared Gradinger, entwerfen körperliche Bilder von ihrer Suche nach bedingungslosem Zusammensein, im Leben und im Tod. Eine Diskussionsrunde mit Sibylle Berg und Peter von Matt beleuchtet die Eigenliebe, den Narzissmus. Schliesslich entführt uns die sizilianische Sängerin Etta Scollo mit Texten von Italo Calvino, Alberto Moravia, Andrea Camilleri und Salvatore Quasimodo in einen facettenreichen Kosmos voll Liebeshunger und Liebesfreuden.
Wie kaum ein anderer Ort hat der Monte Verità am Beginn des letzten Jahrhunderts viele neue Lebensentwürfe inspiriert. Hier wurde die freie Liebe proklamiert, und mit ihr der Ausbruch aus allen bürgerlichen Normensystemen. Der «Monte» ist also ein wunderbarer Resonanzboden für die vielen aktuellen Fragen, die unser Festival stellt.
Wir wünschen dem Publikum anregende Tage, ganz im Sinne der grossen Dichterin Ingeborg Bachmann: «scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht.»
Joachim Sartorius, Paolo Di Stefano