Tamara Schuler
Tag I
Auf dem Berg sein heisst den Berg nicht sehen: Ein anderer Berg wird möglich, wo Feuer brennen und die Zungen nicht gevierteilt sind, eine kitschige Nostalgie auf Kinoplakaten, eine Natur, die sich nicht kümmert um Eindringlinge auf zwei Beinen. Eine Übersetzung ist immer auch ein Zeitzeugnis. Vor meinem Fenster, abends: ghiandaie.
Tag II
Erinnerung: Mein Erschrecken als ich den anderen Berg, meinen Berg in der digitalen Welt vorfand. Ein Freund war zu Besuch gewesen, nun also seine story vom Berg, den doch nur sehen soll, wer bei mir ist. Immerhin: stories sind flüchtig, die Geschichten sind fort sobald die Zunge, der Daumen ruht, Möchtegern-Momentaufnahmen von etwas, das wichtig scheint. Die Wirklichkeit gehört allen, die Wahrnehmung dem Einzelnen. Auch damals schon trampelte die Frage in meinem Kopf herum: War Sprache jemals frei?
Tag III
Das soll es also geben, ein Recht auf Flucht, damit die Hoffnung die Gefangenen am Leben lässt - le droit de s’enfuir - und lässt mich der Berg je los? Vor dem Schreiben kann ich nicht fliehen. Dazwischen die Kamera, der Fotograf kreist um die Tische, streut Auslöserklicks in die Diskussion. Ich sehe die Linse und sehe damit mich, werde mir selbst gewahr und weiss nicht, ob ich mein Gesicht so stehen lassen kann. Ein anderes Leben heisst auch: Die Unmöglichkeit, eine Erfahrung zu erzählen. Wir können dennoch nicht anders.
Tag IV
Dann wieder zurück zum unanderen Leben und weisst du denn nicht, dass der See nur das gespiegelte Negativ ist vom Berg? Flüssiges Relief in blau, grau, grün, schwarz. Zum Abschied Doraden und Regen.
Biographie
Tamara Schuler, geboren 1990 in Zürich, hat einen Master-Abschluss in Weltgesellschaft und Weltpolitik, arbeitet als Buchhändlerin und bei der Literarischen Vereinigung Winterthur. Zudem ist sie als freie redaktionelle Mitarbeiterin bei Viceversa tätig.